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Geschichte / Repertoire / Konzertreisen

Geschichte des Chores

„Die Liebe dieses Chors zur Musik, die er pflegt, ist echt und aufrichtig.“
(Prof. Eliyahu Schleifer, Jerusalem, Leipziger Volkszeitung, 31. März 2010)

 

Werner Sander, der 1945 aus Breslau nach Meiningen gekommen war, wurde 1950 als Kantor und Religionslehrer an die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig berufen. Kurze Zeit später gründete er den Leipziger Oratorienchor, um die großen Oratorien der Musikliteratur mit ihren biblischen Themen aufführen zu können. Als die einzig verbliebene Leipziger Synagoge 1962 nach einer Renovierung neu geweiht wurde, entwickelte Sander mit dem Westberliner Kantor und Tenor Leo Roth die Idee eines Chores, der sich den seit der Zerstörung der Synagogen im Jahr 1938 nicht mehr aufgeführten Chorwerken der liberalen Synagogentradition, den wunderbaren Kompositionen von Lewandowski, Naumbourg, Sulzer, Lampel u. a. m. widmen würde, und dies für ein großes Publikum.


Mit Mitgliedern des Oratorienchores und des Synagogenchores begann Sander zu proben, die Literatur hatte er selbst über Jahre gesammelt. Schon im Mai 1963 fanden die ersten Konzerte statt. Unter dem Titel „Der jüdisch-liturgische Gesang im Wandel der Stilepochen“ erklangen Chorwerke aus dem 17. bis 20. Jahrhundert u. a. von Salomone Rossi, Salomon Sulzer, Samuel Naumbourg, Louis Lewandowski und Samuel Alman. Als Vorsänger fungierte Leo Roth neben der Sopranistin Eva-Maria Straussová und dem Bariton Peter Zacher, die Orgel spielte Herbert Schmidt von der Dresdner Musikhochschule. Weitere Konzerte in ähnlichen Konstellationen folgten in Karl-Marx-Stadt, Halle, Berlin, in Dresden, Leipzig, Magdeburg und Erfurt. Anfangs noch unter der Bezeichnung „Der verstärkte Leipziger Synagogenchor“ singend, fixierte sich spätestens mit dem Erscheinen der ersten Schallplatte 1965 der Name Leipziger Synagogalchor.


Diese erste Schallplatte „Meisterwerke der Synagoge und das jüdische Volkslied“ wurde auch in die BRD und die USA lizenziert. Hier und auf den nächsten zwei Schallplatten aus den Jahren 1969 und 1971 fanden vor allem Sanders Arrangements jiddischer Volkslieder und hebräischer Festgesänge ihren Platz.

 

Nach Sanders Tod im Juli 1972 wurde der Tenor Helmut Klotz, der bereits als Solist mit dem Chor aufgetreten war, zum künstlerischen Leiter berufen. Er übernahm nun die Rolle des jüdischen Vorsängers und sang die Tenorsoli aus dem Dirigat heraus. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Ensemble in 40 Jahren zu einem national und international angesehenen Konzertchor. Konzerte zu den Leipziger Messen, zu internationalen Tagungen, zu Gedenkfeiern und Benefizveranstaltungen, zu musikalisch-literarischen Abenden, zu jüdischen Kulturtagen, in Synagogen, Konzerthäusern und vor allem in Kirchen sowie Reisen ins nähere und fernere Ausland folgten in großer Zahl, soweit es das Berufsleben der Chorsängerinnen und Chorsänger zuließ. Der Chor war und blieb ein nicht-professionelles Ensemble, das seine Leidenschaft für die jüdische Chormusik in der Freizeit ausübte. Unter Helmut Klotz entstanden weitere Langspielplatten und CD-Kompilationen. Dank der Initiative von Siegfried Theodor Arndt vom Leipziger Arbeitskreis Kirche und Judentum und des Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig Eugen Gollomb wurde 1980 der Ökumenische Gedenkgottesdienst in Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 fest etabliert, den der Leipziger Synagogalchor seitdem jährlich in der Thomaskirche musikalisch gestaltet.

 

Zum 50. Chorgeburtstag 2012 übernahm Ludwig Böhme die künstlerische Leitung des Chores und erweiterte das Repertoire, das in der synagogalen Musik von der Renaissance bis in die Moderne reicht und mittlerweile unzählige eigens für den Chor geschaffene Arrangements jiddischer Lieder umfasst, immens. Böhme gab nicht nur in der Chorarbeit, sondern auch in der Programmkonzeption und in Kooperationen mit renommierten Partnern neue Impulse und führte den Chor zu neuer Qualität und Anerkennung. Im 60. Jahr des Chores fand erneut ein Leitungswechsel statt ‒ seit September 2022 hat Philipp Goldmann die künstlerische Leitung inne.

 

Bis zur deutschen Wiedervereinigung war der Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR der Träger des Chores; zur Unterstützung des Ensembles erhielt er Fördermittel aus dem Kulturfonds der DDR. Seit 1991 ist der Leipziger Synagogalchor ein eingetragener, gemeinnütziger Verein; er wird seit vielen Jahren vom Kulturamt der Stadt Leipzig institutionell gefördert. Der Chor wurde mit zahlreichen Auszeichnungen – u. a. 1981 mit dem Kunstpreis der Stadt Leipzig und 1988 mit dem Stern der Völkerfreundschaft in Gold, einer der höchsten staatlichen Anerkennungen in der DDR – geehrt. Im Januar 2017 erhielt das Ensemble den Sonderpreis für herausragende Leistungen der Obermayer German Jewish History Awards. Auf Initiative des Leipziger Synagogalchores wurde die „Revitalisierung synagogaler Chormusik des 19. und 20. Jahrhunderts Mittel- und Osteuropas“ im März 2020 in das Register guter Praxisbeispiele des Bundesweiten Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Der Leipziger Synagogalchor ist Mitglied im Verband Deutscher Konzertchöre und im Netzwerk Tolerantes Sachsen.

 

Literatur:
Tina Frühauf: Werner Sander. „den Frieden endgültig zu festigen“. Ein großer Vertreter der jüdischen Musik in der DDR (Jüdische Miniaturen 213). Berlin 2017.
Tina Frühauf: Transcending Dystopia. Music, Mobility, and the Jewish Community in Germany 1945‒1989. Oxford 2021, S. 193–306.

Das Repertoire

„Gefühlvolle Gesänge, festliche Synagogenmusik sowie temperamentvolle jiddische und hebräische Folklore“
(Die Welt, 1. April 1996)

 

Der jüdische Gottesdienst war traditionell vom Wechselgesang des Vorbeters (Chasan) und der Gemeinde geprägt. Die im frühen 19. Jahrhundert einsetzende Reformbewegung im deutschen Judentum führte zu Veränderungen der Religionspraxis und der synagogalen Musik, die nach und nach die Musikausübung in west- bis osteuropäischen reformierten Synagogen prägten. Die erste Orgel wurde 1810 in die Synagoge in Seesen gebaut, und es wurden gemischte Chöre gebildet. Kantoren und Chorleiter wie Salomon Sulzer (1804‒1890) in Wien, Louis Lewandowski (1821‒1894) in Berlin und Samuel Naumbourg (1817‒1880) in Paris prägten mit ihren liturgischen Kompositionen ‒ Vertonungen von Gebeten und Psalmen für Chöre a cappella oder mit Orgelbegleitung ‒ eine synagogale Musiktradition, die sich an der zeitgenössischen christlichen Kirchenmusik orientierte. Ihrem Beispiel folgten in den nächsten Jahrzehnten unzählige Kantoren, Chordirigenten oder Lehrer an großen und kleinen europäischen Synagogen, um nur einige zu nennen: Max Löwenstamm (1814‒1881, München), Hermann Ehrlich (1815‒1879, Berkach), Moritz Deutsch (1818‒1882, Breslau), Salomon Jadassohn (1831‒1902, Leipzig), Abraham Dunajewski (1843‒1911, Odessa), David Nowakowski (1848‒1921, Odessa), Alfred Rose (1855‒1919, Hannover), Eduard Birnbaum (1855‒1920, Königsberg), Emanuel Kirschner (1857‒1938, München), Samuel Alman (1879‒1947, London) oder Samuel Lampel (1884‒1942, Leipzig). Mit der Machtergreifung der Nazis 1933, der Zerstörung der Synagogen 1938 und der Ermordung der jüdischen Bevölkerung wurde dieser Musiktradition, die kaum ein Jahrhundert Zeit hatte, um sich zu entwickeln, ein jähes Ende gesetzt.


In Leipzig legte Werner Sander zusammen mit dem Westberliner Kantor Leo Roth 1962 den Grundstein, um die vergessene synagogale Chormusik mit einem leistungsfähigen Ensemble nicht nur wieder in der Synagoge, sondern auch auf Konzertbühnen erklingen zu lassen. Bis heute widmet sich der Leipziger Synagogalchor diesem Anliegen. Sein Repertoire reicht von Salomone Rossis Werken des 17. Jahrhunderts über die romantische Chormusik des 19. Jahrhunderts bis hin zu modernen Aufbrüchen des 20. Jahrhunderts, hier seien Ernest Bloch (1880‒1959), Heinrich Schalit (1886‒1976), Paul Ben-Haim (1897‒1984) und Kurt Weill (1900‒1950) stellvertretend genannt.


In vielen Werken bewahrt der Leipziger Synagogalchor die aschkenasische Aussprache des Hebräischen, wie sie in deutschen Synagogen in verschiedenen regionalen Ausprägungen gebräuchlich war, während das moderne Hebräisch von der sephardischen Aussprache geprägt ist.

 

Werner Sander hatte sich aber auch weltlichem Repertoire zugewandt. Für seinen Chor arrangierte er jiddische und hebräische Lieder mit Solistenparts und Klavierbegleitung. Ab den 1980er Jahren wurde dieses Repertoire durch zahlreiche Arrangements von Friedbert Groß erweitert. Bonia Shur und Joseph Dorfman widmeten dem Leipziger Synagogalchor einige Bearbeitungen. Ein eigenes Konzertprogramm, „Lidl fun goldenem land“, entstand 2015 (CD 2016) mit Arrangements von Juan Garcia, Fredo Jung, Philip Lawson, Walter Thomas Heyn, Reiko Füting, Matthias Becker und Ludwig Böhme, von Werken u. a. von Mordechaj Gebirtig, Mark Warschawski, Morris Rosenfeld, Itzik Manger, Michl Gordon, Abraham Goldfaden und von vielen Liedern, deren Verfasser nicht mehr bekannt sind und die heute auch einfach als „Folk songs“ bekannt und beliebt sind. Zahlreiche Arrangements liegen in kammermusikalischen Orchesterfassungen vor.

 

Mit musikalisch-literarischen Veranstaltungen, Gemeinschaftsprojekten und genreübergreifenden Konzerten setzt das Ensemble besondere Akzente. Herausragende Unternehmen waren z. B. die Mitwirkung an der Opernproduktion „Der Weg der Verheißung“ von Kurt Weill (1999/2000), die konzeptionelle Beteiligung mit jiddischen Liedern an der Tanzperformance „Der Dybbuk“ von Anna Natt (2014/2015), die Wiederaufführung des christlich-jüdischen Konzerts aus der Leipziger liberalen Gemeindesynagoge von 1926 zusammen mit dem Kammerchor Josquin des Préz (2015/2018) in der Thomaskirche zu Leipzig und beim Kurt Weill Fest in Dessau (CD "Klingende Toleranz" 2019), die Mitwirkung an der Uraufführung der Sinfonie „Ubi caritas” von Henryk Jan Botor während des Internationalen Musikfestivals „Pax et bonum per musicam” in Wrocław (2016) und am interreligiösen Psalmenprogramm „Sacred Bridges” des Ensembles Sarband zum Heinrich-Schütz-Musikfest in Weißenfels (2017), die „Klassik-Klezmer“-Fusion mit dem Ensemble Rozhinkes zur Jüdischen Woche in Leipzig (2017), das christlich-jüdische Psalmenprogramm „Cantate l’Adonai” mit dem Kammerchor Josquin des Préz (2019/2020), die Uraufführung von Aristides Strongylis’ Psalmvertonung „Adonai! Kyrie! Lord! Herr!“ (2019), „Bloch im Bahnhof”, die Aufführung von Ernest Blochs chorsinfonischem Schabbatgottesdienst „Avodath hakodesh” im Leipziger Hauptbahnhof zur Jüdischen Woche (2019), sowie die Leipziger und Hallesche Erstaufführung von Paul Ben-Haims Oratorium „Joram“ im Gewandhaus und in der Händel-Halle (2022). Dem Werk Samuel Lampels widmet sich die CD "Samuel Lampel. Abendgebet zum Schabbat (1928)", die mit einem Konzert zur Leipziger Jüdischen Woche 2023 präsentiert wurde.

Konzertreisen

„Das ganz Besondere an diesem Shabbat-Gottesdienst war für mich natürlich der Chor von Nicht-Juden aus Leipzig, der die alten Gesänge, so wie ich sie noch aus meiner Jugend in Deutschland kenne, zu Gehör gebracht hat.“
(Prof. Schalom Ben-Chorin, Jerusalem 1993)

 

Konzertreisen führten den Leipziger Synagogalchor seit den 1970er Jahren und verstärkt seit der Wiedervereinigung 1990 ins In- und Ausland.

1975 und 1976 sang der Leipziger Synagogalchor in Prag und Brno. Von 1983 an reist das Ensemble fast jährlich nach Polen. Der Chor war in den Synagogen von Warszawa und Wrocław ebenso zu Gast wie in den Kathedralen von Opole und Katowice. Die Auftritte in Lublin und Oświęcim, wo der Chor in den ehemaligen Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz Blumen niederlegte, hinterließen tiefe Eindrücke.


Die erste Konzertreise ins westliche Ausland unternahm eine Delegation von acht Sängern nebst Chorleiter und Pianist 1985 nach Paris. Ab 1986 durften fast alle Sänger des Chores als „Reisekader“ der DDR in nichtsozialistische Länder reisen. Erste Auftritte in der BRD fanden 1988 in Duisburg, Hannover und Hildesheim statt.

Seit den 1990er Jahren gab der Chor zahlreiche Konzerte in ganz Deutschland. Wichtige Stationen waren neben vielen jüdischen und nichtjüdischen Festivals und Kulturtagen z. B. Konzerte in der Dresdner Frauenkirche (2006), im Kölner Dom (2008), auf der Biennale „Musik der Synagogen“ im Ruhrgebiet (2008 und 2010), beim interreligiösen Festival “Musica Sacra International” im Allgäu (2014), beim internationalen Louis-Lewandowski-Festival in Berlin (2013 und 2016), in der Stiftskirche Stuttgart (2016), beim Heinrich-Schütz-Musikfest in Weißenfels (2017), beim Achava-Festival in Eisenach (2019) und beim Kurt Weill Fest in Dessau (2018, 2019, 2020, 2022, 2023).

Auslandsreisen führten neben Polen u. a. nach Odessa (1993), in die USA (1994 und 2000), nach Spanien und Portugal (1996), Südafrika (1998), Brasilien (2005), Schweden (2009) und Tschechien (2013, 2018, 2019). In London (2015).und Wien (2023) sang der Chor beim European Jewish Choral Festival. Nach Israel führten bislang drei Konzertreisen (1993, 2010 und 2017). Durch einen Knesset-Beschluss war es dem Ensemble 2010 gestattet, in der Synagoge der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zu singen.